Volkshochschulkurs
2008
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Literarische Texte
Harald Bauschatz
Workshop-Teilnehmer
*19.08.1939
Realschullehrer – pensioniert
(Deutsch / Geschichte / Sport)
Stadt- und Kostümführer bei der Stadtführer-Gilde in Hildesheim
Kriegsende und Nachkriegszeit in Hildesheim 1945
- Erlebnisse eines Siebenjährigen in mehreren Episoden
- (Stadtführer – Kurs E 2365 K – 2003 / 04 Abschluss – Prüfungsarbeit)
Sämtliche dargestellten Ereignisse – auch die Namen der handelnden Personen – entsprechen der Wirklichkeit, nichts ist erfunden oder hinzugefügt!
Leben in Hildesheim 1945 – Ruinenkinder
Am 22. März 1945, zwei Wochen vor dem Einmarsch amerikanischer Soldaten in Hildesheim, zerstörten 247 amerikanische und britische Bomber um 13.30 Uhr große Teile der Stadt durch einen schweren Luftangriff. Militärische oder wirtschaftliche Ziele wurden dabei nicht angegriffen, doch die historische Innenstadt war nach dem Angriff zu 85 % vernichtet. Aber auch in den Randgebieten der Stadt waren nach dem Angriff, viele Häuser zerstört und unbewohnbar; 1736 Einwohner wurden durch den Angriff getötet.
Zur Zeit des Angriffs war ich sieben Jahre alt; meine Mutter, meine Tante, meine fünfjährige Schwester und ich, wir überlebten den Feuersturm in einem Luftschutzkeller am Moritzberg tief unter der Erde.
Als wir uns wieder nach draußen wagten, waren Sonne und Himmel hinter schwarzen Rauchwolken verschwunden, von der höher gelegenen Zierenbergstraße aus konnten wir zusehen, wie unser Haus ausbrannte. Meine Mutter wollte noch etwas aus den Flammen retten, aber unser Angstgeschrei hielt sie davon ab. Danach besaßen wir nur das, was wir in Taschen und kleinen Rucksäcken mit in den Luftschutzkeller genommen hatten. Für längere Zeit hausten wir in zwei nicht eingestürzten Kellerräumen des kleinen – ebenfalls zerstörten – Hinterhauses.
Mein Vater war Soldat, wahrscheinlich inzwischen Kriegsgefangener, wir wussten nicht einmal, ob er noch lebte.
In den folgenden Tagen versuchten wir nun, so gut wie irgend möglich mit der Situation fertig zu werden; der tägliche Überlebenskampf ließ uns wenig Zeit zum Nachdenken. Wie meine Mutter und meine Tante es geschafft haben, dass wir alle immer einigermaßen satt wurden, kann ich bis heute nicht erklären.
Nach etwa zwei Wochen wurden wir zu einer anderen Familie in deren Wohnung eingewiesen. Man empfing uns zwar nicht gerade mit Begeisterung, aber das Leben wurde etwas erträglicher, weil wir uns nun auch die einfachen Dinge, die man zum Leben brauchte, wie Tassen, Bestecke, einen Kochtopf, ausleihen konnten.
Meine Mutter arbeitete tagsüber – die Männer waren noch nicht wieder aus Krieg oder Gefangenschaft zurück.
Eigentlich empfanden wir Kinder die Zeit nicht als so bedrückend wie die Erwachsenen. Zwar mussten wir häufig im Garten arbeiten, Feuerholz sammeln oder auf andere Art zum Überleben der Familie beitragen, hatten aber dennoch viel freie Zeit. Schulunterricht gab es noch nicht wieder; in den Schulen, die nicht zerstört waren, hatte man Lazarette eingerichtet, und die damals überwiegend männlichen Lehrer kamen erst nach und nach wieder zurück.
Meine Freunde und ich, wir gehörten zu einer Gruppe von etwa sechs Jungen im Alter von acht bis zehn Jahren, die den Tag gemeinsam verbrachten, wenn wir nicht für die Familie im Einsatz waren. Am liebsten spielten wir Fußball auf dem Rex – Brauns – Platz, aber es gab nur einen einzigen mittelgroßen Gummiball, der nicht zu sehr strapaziert werden durfte – wir spielten daher immer barfuß, auch wenn uns das manchmal vor allem die Zehen sehr übel nahmen. Außerdem hatten es die Mütter streng verboten, die wertvollen Schuhe beim Fußballspielen anzubehalten, Ersatz bei Beschädigungen gab es nämlich nicht!
Wenn Ball oder Füße geschont werden mussten, spielten wir in den vielen Ruinen – das waren ausgebrannte oder durch Sprengbomben zerstörte Häuser, von denen meist die stabilen Außenwände mit hohlen Fenstern und ohne Dach noch standen, im Inneren häufte sich der Rest des Hauses zu einem mehr oder weniger hohen Schuttberg auf. In diesen Ruinen, deren Betreten wegen der Einsturzgefahr streng verboten war, lebten zwar zahlreiche Ratten, die man jagen konnte, aber es gab in ihnen auch viel zu entdecken.
Manchmal schaufelten wir mit Hilfsmitteln wie Dachrinnen-Resten Kellertüren frei, und in dem Keller fanden sich dann herrliche Dinge, wie Kohlen, Kartoffeln, oder – wenn wir ganz großes Glück hatten – unversehrte Einmachgläser mit Füllung.
Das waren dann Feiertage mitten in der Woche.
Natürlich wurde alles unter uns gerecht aufgeteilt, es gab dabei zwar manchmal Spannungen, aber nie ernsthafte Auseinandersetzungen. Nur, wenn Erwachsene auftraten, gab es meist großen Ärger, weil die grundsätzlich alles für sich beanspruchten.
Diese Erwachsenen – meist ältere oder kriegsversehrte Männer – hielten uns dann moralisierende Vorträge über Einbruch (Kellertür) und Diebstahl, scheuten sich aber nicht, die “gefundenen“ Herrlichkeiten mitzunehmen, angeblich, um sie natürlich ihren Besitzern zu übergeben – wir glaubten ihnen kein Wort! Es gab allerdings auch Fälle, wo Erwachsene die Fundstücke brüderlich mit uns teilten.
Dieses Ruinen – Erkunden war natürlich nicht ungefährlich, wie die folgende Begebenheit deutlich machen soll:
Eines Tages wollten wir ein Trümmergrundstück untersuchen, das etwas außerhalb unseres eigentlichen Spielbereiches lag. Es war ein großes dreistöckiges Haus mit hohlen Fenstern und wir wollten feststellen, ob der Keller vielleicht (noch) nicht eingestürzt war und etwas Brauchbares enthielt. Wir schlichen uns also vorsichtig von hinten durch einen verwilderten Garten an (Betreten verboten), merkten aber bei unserer Erfahrung auf diesem Gebiet sehr schnell, dass bei der geringen Höhe des inneren Schuttberges – erreichte etwa bis zu den Fensterbänken der Erdgeschosswohnung – auch die Kellerdecken eingebrochen sein mussten. Als wir dabei waren, das Haus enttäuscht wieder zu verlassen, blickte einer von uns nach oben – und erstarrte!
Hoch oben im zweiten Stock war in einer Zimmerdecke ein Teilstück der Decke stehen geblieben – und auf diesem Deckenstück stand ein fast unversehrter Küchenschrank!
Wir waren wie elektrisiert! Wieso hatte den noch niemand gesehen? Wie kommen wir dahin? Musste der nicht unglaubliche Schätze enthalten: Kochtöpfe – Pfannen – Küchenmesser – richtig vollständige Bestecke? Das waren Kostbarkeiten, die jede Familie dringend gebrauchen konnte – entweder zur eigenen Benutzung oder zum Eintauschen anderer fehlender Gegenstände!
Wie konnten wir in den zweiten Stock kommen? Eine Leiter hatten wir nicht, sie zu holen wäre auch viel zu auffällig gewesen! Was tun?
Nach einer etwas längeren Pause des Grübelns sagte plötzlich neben mir mein Freund Heinz S.: “Ich versuche es!“
Heinz hatte den Spitznamen “Katze“, weil er katzenhaft flink und geschickt war und wirklich wie eine Katze auf Bäume jeder Höhe kletterte.
Aber hier? Wir sahen nur raue gerade Mauern und hohle Fenster! “Katze, du spinnst! Das schaffst du nie! Das ist lebensgefährlich!“ So ähnlich waren unsere Äußerungen – zuerst – aber dann wurden wir leiser. Wir wussten, dass die Schätze aus dem Küchenschrank ja unter uns aufgeteilt werden würden – und das waren natürlich verlockende Aussichten! Trotzdem versuchten wir Katze zurückzuhalten, große Mühe gaben wir uns dabei allerdings nicht.
Und Katze war nicht aufzuhalten – wir sahen mit offenen Mündern zu, wie er von einem hohlen Fenster zum nächsten kletterte, er fand Mauerspalten und kleine Vorsprünge, die wir nie gesehen hätten, wie eine Eidechse schob er sich höher und höher und dann – dann stand er auf dem Zimmerdeckenrest vor dem Schrank und trommelte sich wie Tarzan trumphierend mit den Fäusten auf die noch ziemlich schmächtige Brust!
Wir standen unten und jubelten ihm zu, als es plötzlich ein Donnern gab und die Zimmerdecke mit Küchenschrank und Katze krachten unten auf den Schuttberg. Wir alle hatten einen Satz nach hinten gemacht, und als sich der erste Staub verzog, stürzten wir zu Katze hin, der wimmernd zwischen den Mauerbrocken auf dem Rücken lag. Er lebte offensichtlich noch, Wunden konnten wir keine entdecken, also hin zu den Trümmern des Küchenschrankes! Wir beluden uns mit Töpfen und Pfannen und den weiteren Kostbarkeiten, und dann, mit schlechtem Gewissen aber voll bepackt, wollten wir uns um Katze kümmern.
Der protestierte energisch – allerdings mit ziemlich schwacher Stimme – und beanspruchte einen gebührenden Teil der Beute. Von irgendwelchen Schmerzen sagte er nichts! Wir gaben ihm Recht, und er konnte sich die besten Stücke aussuchen, auch wenn es uns sehr schwer fiel, sie wieder heraus zu geben. Als er zufrieden war, lief einer los, um seine Mutter zu holen, die voller Angst herbeieilte, uns und ihren Sohn beschimpfte und mit Vorwürfen überhäufte, ihn aber gleich danach tröstete und streichelte, was ihm vor uns sichtlich peinlich war. Ehe der Krankenwagen kam musste Katzes ältere Schwester die erkämpften Gegenstände noch schnell nach Hause bringen; die Mutter fuhr mit ihrem Sohn ins Krankenhaus.
Katze hatte sich den linken Arm zweimal und dazu drei Rippen gebrochen – der Sturz zwischen den Deckentrümmern auf den Schuttberg hätte weitaus schlimmere Folgen haben können.
Zu Katze ins Krankenhaus, um ihn zu besuchen, durften wir ohne Eltern nicht; aber nach zwei Wochen kam er wieder nach Hause und etwas später war er wieder der “Katze“, den wir kannten, und wir waren alle froh, ihn wieder so unternehmungslustig und fit wie Früher unter uns zu haben.
Zu unseren Gedanken
und Erinnerungen
lebt er weiter!
Die AMerikaner sind da!
Die Grenze zwischen den Stadtteilen Moritzberg und Himmelsthür bilden die Bundesstraße B1 nach Elze/ Hameln (Bückebergstraße) und die Bahnlinie Hildesheim – Elze/ Hannover.
Beide Verkehrswege waren sehr interessant für uns Kinder, die Bahnlinie wegen der “Kohlenzüge“, die B1 vor allem wegen der vielen Militärfahrzeuge, die von uns dort zu bestaunen und fachmännisch zu beurteilen waren.
Seit dem Beginn des Jahres 1945 waren deutsche Militärfahrzeuge allerdings kaum noch zu sehen, bis uns eines Tages das unverkennbare Dröhnen von Panzermotoren und das Zittern des Bodens unter uns anzeigten, dass sich auf der B1 irgendetwas Militärisches bewegte. Wir ließen alles stehen und liegen und stürzten zum Ende des Häuserblocks an der Elzer – Straße, von wo wir die B1 überblicken konnten. Unsere Mütter hatten uns immer wieder zu äußerster Vorsicht angehalten, und so spähten wir knieend oder liegend mit eingezogenen Köpfen um die Hausecke. Amerikanische Panzer! Unverkennbar mit den großen, weißen, fünfzackigen Sternen vorn und an den Seiten. Wir kannten den Typ, die älteren Hitlerjungen hatten uns informiert, es waren Shermans, dabei auch einzelne offene Schützenpanzer und Radfahrzeuge in einer Fahrzeugkolonne!
Wir versuchten zu zählen, aber bald gaben wir es auf – die Kolonne nahm kein Ende! Es fiel kein Schuss – die amerikanischen Soldaten saßen friedlich auf den Fahrzeugen.
Als wir das sahen, wurden wir mutiger und einige trauten sich sogar etwas näher an die Straße heran – aber immer noch vorsichtig und jederzeit vorbereitet, sofort wieder hinter den Häusern zu verschwinden. Wir wollten unbedingt die “Negersoldaten“ (wie man damals sagte) sehen.
Und dann passierte etwa Unerhörtes: Sie winkten! Sie winkten uns tatsächlich zu! Das hatten wir nicht erwartet, zaghaft winkten wir zurück und langsam siegte die Neugier über unsere Angst und wir näherten uns vorsichtig der Straße.
Wir hatten schon einiges Interessantes über die “Amis“ gehört – über Kaugummi (das englische Wort “chewing – gum“ hatten wir uns eingepaukt) und dick belegte Weißbrotscheiben, den “Sandwiches“. Aber die Amerikaner anzubetteln – dazu waren wir zu stolz, das verbot unsere Ehre, schließlich waren sie ja trotz allem die “Feinde“ – und die Folgen der Bombenangriffe auf Hildesheim spürten wir noch jeden Tag!
Aber nach längerer Beratung hatten wir dann doch noch eine Idee! Irgendwann einmal würden die Fahrzeuge wahrscheinlich eine Pause machen und anhalten, die Amerikaner, besonders die “Neger“, sollten sehr kinderfreundlich sein – und ich hatte eine niedliche fünfjährige Schwester! Die wollten wir für unsere Ziele einsetzen. Die Mutter wurde vorsichtig eingeweiht – und nach langem Zögern und vielen Bedenken – inzwischen war der Krieg offiziell zu Ende – ließ sie sich überreden, ihrer kleinen Tochter das einzig vorhandene Kleid anzuziehen, ihr dazu eine hübsche weiße Schürze umzubinden, und die langen Zöpfe wurden mit zwei riesigen Schleifen, den so genannten “Propellern“, verziert.
Renate ließ alles über sich ergehen, wir hatten ihr gesagt, wir würden sie mitnehmen zu den Amerikanern.
Dann stand tatsächlich eine Fahrzeugkolonne an der Bückeberstraße (B1), die Soldaten machten die erhoffte Pause.
Mit Renate an der Hand näherten wir uns den Fahrzeugen bis auf etwa 50 Meter und dann sollte sie allein zu den Soldaten gehen. Das gab natürlich Probleme! “Ich habe Angst vor den schwarzen Onkels!“, wiederholte sie mehrfach. Wir boten unsere sämtlichen Überredungskünste auf – wir würden hier stehen bleiben und ganz genau auf sie aufpassen, bestimmt nicht weglaufen und ihr ganz sicher helfen, wenn das nötig sein sollte.
Zögernd trippelte sie los, blickte sich mehrfach ängstlich um, ob wir auch noch da wären.
Sie war noch nicht ganz bei den Fahrzeugen angekommen, als sie schon von Amerikanern umringt wurde, die auf sie einredeten, ihre “Propeller“ bewunderten, sie hochhoben, in die Arme nahmen und an sich drückten.
Ziemlich erleichtert aber immer noch unsicher und ängstlich sahen wir zu.
Nach vielen langen und bangen Minuten kam Renate wieder zurück – ihre Schürze hatte sie hoch geschlagen, denn die war bis oben gefüllt mit Herrlichkeiten aller Art: Schokolade, Keksen, Kaugummis und nicht wenige von den begehrten “Sandwiches“.
Als wir die “Beute“ unter uns aufteilten, winkten uns die Soldaten zu, und – ermutigt durch das Beispiel der kleinen Renate – trauten auch wir uns zu ihnen hin. Auch wir wurden beschenkt, nicht so reichlich zwar, aber für uns war es wie ein Ereignis aus dem Schlaraffenland – so viele herrlich schmeckende Köstlichkeiten hatten wir vorher noch nie besessen Wir bedankten uns natürlich sehr, trugen alles nach Hause und teilten es unter den Familien auf. In unserer Einstellung zu den Amerikanern wurden wir ganz unsicher, ein solches Verhalten hatten wir von den “Feinden“ absolut nicht erwartet!
Leider war die Anwesenheit der Amerikaner in Hildesheim nur eine kurze Episode. Niedersachsen (das neu entstandene Bundesland), wurde ein Teil der Britischen Besatzungszone, die Amerikaner zogen ab, die Engländer kamen. Deren Verhältnis zu den deutschen Einwohnern, auch zu uns Kindern, war – gelinde ausgedrückt – sehr unterkühlt und distanziert.
Wir bedauerten den Abzug besonders der “Neger – Soldaten‘ sehr – über die “Tommies“ machten wir uns lustig, vor allem über ihre Stoff – Gamaschen, die sie über ihren Militärschuhen trugen: “Die können uns nichts geben, die haben ja selbst nichts, nicht einmal richtige Soldatenstiefel!“
Mit dieser Ansicht standen wir nicht allein und hatten daher auch ein gewisses Verständnis für ihr unfreundliches Verhalten – aber sie waren dadurch für uns auch nichts anderes als wenig sympathische Besatzungssoldaten – aber mehr wollten sie wohl auch nicht sein.
Abenteuer Kohlenzug
Wie in der ersten Episode bereits erwähnt, mussten die Kinder in der Zeit vor und nach Kriegsende ihren Beitrag zum der Familie leisten. Dazu gehörte nicht nur das Beschaffen von Lebensmitteln ( Kartoffeln nachlesen – Bucheckern sammeln – Futter für die Haustiere beschaffen )‚ sondern, wenn möglich, auch das Heranholen von Heizmaterial. Diese Aufgabe war nicht nur auf die Wintermonate begrenzt; da in den Küchen das Herdfeuer zum Kochen notwendig war, mussten auch im Sommer Holz oder Kohlen vorhanden sein. Das “Besorgen“ von Heizmaterial war also durchaus als “lebenswichtig“ einzustufen.
Beim einzigen Kohlenhändler gab es manchmal – mit großen Unterbrechungen – Torfstücke zu kaufen, die recht teuer waren, ziemlich schnell verbrannten und nur wenig Hitze erzeugten. Kohlen gab es in den ersten Jahren nicht.
Das Holz in der Ruinen war bald verschwunden, es war zwar möglich, im Wald Holz zusammeln, aber auch dort waren etwas dickere Äste kaum noch zu finden. Einen Baum zu fällen war bei Strafe verboten!
Kohlen gab es auch – auf dem Güterbahnhof standen öfter beladene Kohlenzüge, deren Ladungen wohl für die Häuser der Besatzungssoldaten oder für die wenigen unzerstörten Industriebetriebe bestimmt waren. Diese Züge wurden von der Bahnpolizei ziemlich streng bewacht, außerdem war der Güterbahnhof das Ziel vieler frierender Bürger, die Kohlen zu “organisieren“ versuchten; die Chance, dort etwas zu bekommen, war sehr gering.
Als Kind konnte man auch noch die Lokomotivführer oder Heizer anbetteln, da sämtliche Lokomotiven noch mit Kohlen beheizt werden mussten, aber deren Spendierfreudigkeit war natürlich auch nur begrenzt, und dann mussten sechs oder sieben Jungen zwei Presskohlenstücke unter sich aufteilen.
Da hatten die Moritzberger, die an der Grenze zu Himmelsthür wohnten, das Glück, dass neben der Bückeberg-Straße (B1) der Bahndamm verläuft (Bahnlinie Hildesheim – Hannover), über den täglich mehrere Kohlenzüge in den Güterbahnhof einfuhren.
Der Bahndamm ist (von der Straße aus) etwa 20 – 25 m hoch, ziemlich steil, und endet an der Fünfbogenbrücke, die über den Kupferstrang (ein kleiner Bach) und die Innerste führt. Diese Brücke ist etwa 120 m lang, kurz dahinter beginnt der Hildesheimer Rangierbahnhof, der in den Güterbahnhof und dann in den Hauptbahnhof übergeht.
Parallel zum Bahndamm, wieder auf einer leichten Anhöhe, etwa 150 m vom Bahndamm entfernt, verlief die B1, die noch zweispurig und nicht ausgebaut war. In der Senke zwischen dem Bahndamm und der B1 gab es einige eingezäunte Kleingärten und mehrere frei stehende größere und kleinere Buschgruppen.
Am Ende der Fünfbogenbrücke in Richtung Stadt/Bahnhof steht eine Signalanlage, über die das Einfahren der ankommenden Züge in den Bahnhof geregelt wird. Erhält ein Zug keine Einfahrt, dann steht er auf der Brücke und mit einigen Wagen noch auf dem beschriebenen Bahndamm.
Falls dieser Zug damals ein Kohlenzug war, konnten flinke “Kohlendiebe“ die wenigen Halt-Minuten nutzen, um die Waggons zu erklettern und Kohlenbrocken herunter zu werfen. Die Kohlenzüge waren fast immer mit Steinkohlebrocken beladen. Beim Anfahren des Zuges musste der Waggon dann blitzartig verlassen werden – auf der Brücke war ein Abspringen nicht mehr möglich.
Dieses Verfahren war sehr gefährlich, hatte aber den Vorteil, dass die Bahnpolizei während des kurzen Halts des Zuges nicht anwesend war oder erst zu spät eintraf.
Wenn nun der Winter näher kam oder das Brennmaterial in einem der Hausbalte unserer Jungengruppe knapp wurde, verlegten wir unsere Nachmittage an den Bahndamm. Dort gab es zwischen Innerste und dem kleinen Kupferstrang viele Spielmöglichkeiten. Dabei behielten wir die ankommenden Züge immer genau im Auge und ebenso das Signal am Ende der Brücke. Unser Vorgehen hatten wir genau geplant: An einem “Treffpunkt“ bei den Kleingärten hatten wir unsere kostbaren Kohlensäcke versteckt, dort war der Platz der “Fänger-Gruppe“. Ein stehender Kohle-Waggon auf dem Gleis oberhalb der “Fänger“ war das Ziel der beiden “Werfer“, und die Aufgaben waren genau abgesprochen.
Zwei “Werfer“ hatten die Aufgabe, auf den stehenden Waggon zu klettern und möglichst viele möglichst große Steinkohlebrocken auf den Bahndamm zu werfen. Einer der Werfer war immer der bereits vorgestellte “Katze“, der andere ein an diesem Tag besonders Mutiger – manchmal musste aus mehreren dieser eine ausgewählt werden. Die übrigen Vier oder Fünf waren die “Fänger“; deren Aufgabe war auch nicht einfach. Die Steinkohlebrocken, die ein Gewicht von etwa 10 – 15 kg hatten, rollten nämlich nicht gemächlich den steilen Bahndamm hinunter, sie sprangen oft geradezu in großen Sätzen nach unten und es wäre sicher nicht nur sehr schmerzhaft gewesen, wenn sie einen der “Fänger“ getroffen hätten. Sie wurden auch nicht “aufgefangen“, sondern wir mussten ihren Lauf verfolgen ihnen blitzschnell ausweichen. Dann wurden sie eingesammelt, wenn unten irgendwo am Zaun der Kleingärten oder in einem Busch liegen blieben.
Mein Freund Walter H. war der Führer der “Fängergruppe“. Er war zwar spindeldürr aber hoch aufgeschossen und überragte uns alle um Kopfeslänge. Dadurch hatte er die beste Übersicht! Er musste uns vor den herabspringenden Brocken warnen, gleichzeitig hatte er noch eine weitere Aufgabe, nämlich die “Schmarotzer“ abzuwehren! Das waren ältere Jugendliche oder Erwachsene, die sich nicht auf die Waggons trauten oder allein waren und sich Kohlebrocken von “unseren“ holen wollten – was ihnen in der Hektik des Ausweichens und Aufsammelns auch häufig gelang. Nicht selten versuchten auch noch weitere Bewohner der Elzer – Straße den Zug zu erreichen, nachdem sie den Halt beobachtet hatten. Häufig kamen sie aber zu spät und versuchten dann mit dem Recht der Stärkeren mehrere der unten liegenden Brocken zu bekommen. Wir waren schon froh, wenn wir etwa die Hälfte der Kohlen unserer Werfer für uns behalten konnten.
Natürlich war unsere Gruppe nicht die einzige, die sich auf diese Weise Heizmaterial bemühte, am Bahndamm wimmelte es von Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern.
Die Werfer oben hatten mit einem Auge auch immer das Signal im Blick, und sobald es die Einfahrt freigab (oder Bahnpolizei sich näherte) sprangen sie vom Waggon auf den Bahndamm und kamen nicht selten – wie die Kohlenstücke – mit ziemlicher Geschwindigkeit auf dem Hosenboden von oben heruntergeschlittert. Es war übrigens nicht selten, dass der Lokomotivführer vor dem Anfahren mit einem Pfiff aus der Signalpfeife der Lokomotive die Kohlendiebe warnte, so dass diese rechtzeitig abspringen konnten.
Nach der Abfahrt des Zuges teilten wir die “gesammelten“ Kohlenstücke unter uns auf. Mehr als drei oder vier dieser Brocken waren wegen ihres Gewichtes von uns ohnehin nicht zu transportieren. Häufig schleiften wir die Säcke mühsam hinter uns her. Selbst auf dem Nachhauseweg versuchten Erwachsene ab und zu noch, uns einen Kohlensack wegzunehmen; aber unser lautes Geschrei in der Nähe der Häuser und unsere erbitterte Gegenwehr konnten das immer abwenden.
Zu Hause wurden die Brocken dann zerkleinert und für einige Tage waren das Mittagessen und wohlige Wärme in der Wohnküche wieder gesichert! In unserer Gruppe waren wir alle mit uns zufrieden. Wir hatten ein gefährliches Abenteuer erfolgreich gemeistert und zum Lebensunterhalt der Familie wieder etwas beigetragen.
Nachbetrachtung Jugendliche früher und heute
Wenn man das Geschehen um und nach 1945 aus der Sicht der Jugendlichen von damals beschreibt und sich ständig beruflich mit den jungen Leuten von heute befasst (als Lehrer an einer Realschule), dann stellt man natürlich Vergleiche an und da fallen schon deutliche Unterschiede auf. Einige davon möchte ich anführen – ohne Wertung – denn die jungen Leute sind immer “Produkte“ des gesellschaftlichen Umfeldes – der Eltern, der Schulen und, nicht zuletzt gerade heute, vor allem der (Bild-)Medien!
Dieser letzte – vielleicht einflussreichste – Faktor spielte damals noch keine Rolle! Es gab natürlich den Rundfunk, aber wer von den Jugendlichen hörte den schon? Das Fernsehen steckte noch in den Anfängen und wurde erst wichtig mit der Weltmeisterschaft im Fußball 1954. Während dieser Zeit waren wenigen Fernsehapparate, die es gab, regelrecht umlagert; aber es ging nur um Fußball – Beeinflussung durch Werbung oder politische Sendungen gab es noch nicht.
Die jungen Leute von damals hatten auch zu wenig Zeit, um lange fernzusehen; wie bereits erwähnt, mussten sie mithelfen, das Überleben der Familie zu sichern. Ich erinnere mich an zeitraubendes Holz- oder Bucheckern-Sammeln, wir fuhren zum Rüben-Verziehen (Unkraut von den Rübenfeldern entfernen) zu den Rübenbauern – als Lohn gab es 10,-DM pro Tag und mittags ein Kochgeschirr voll kräftigen Eintopf. Für die heimischen Kaninchen musste Futter gesammelt werden, und beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser waren Steine zu klopfen (von alten Putz- und Zementresten zu reinigen), da es neue Steine noch nicht gab.
Es gab keine Langeweile, kein “Herumhängen“ irgendwo, keine Zeit für Discos oder Drogen. Zigaretten, wenn man welche hatte, wurden nicht geraucht, sie waren ein wichtiges Zahlungsmittel für lebensnotwendige Dinge!
Diese Sorgen hat heute kein Jugendlicher, dafür aber viel freie Zeit! Und im Fernsehen bekommt er dann gesagt, was er zu tun und anzuziehen hat, wenn er “cool“ und “in“ sein will. Aus diesem Anspruch kann er nicht heraus, oder er wird zum verlachten und ausgestoßenen Einzelgänger.
Kann er sich die “angesagte“ Jacke nicht kaufen, dann hilft er sich eben mit Gewalt durch das “Abziehen“ einer Jacke von anderen. Anregungen dazu und Hinweise für die Durchführung findet er wieder im Fernsehen in ausreichendem Maße.
Heiligabend und an den Weihnachtstagen finden sich 22 Gewalt- und Horrorfilme im Programm. Darunter: „Highway zur Hölle“, „Termonator 2“, „Stirb langsam“, „American Werewolf“ und „Karate Tiger“. (HAZ vom 22.12.2003)
Den Einfluss des Umfeldes gab es natürlich auch damals schon.
Als Junge trug man kurze Hosen – oft pflegeleichte Lederhosen – möglichst auch noch lange wahrend der kälteren Jahreszeit. Noch als ich vierzehn Jahre alt war, besaß derjenige von uns das höchste Ansehen, der im Herbst (und Winter) am längsten seine kurze Hose anbehielt! Obwohl uns das nicht bewusst war, standen wir immer noch unter dem Einfluss des Hitler-Jugend-Denkens: Hart wie Kruppstahl – zäh wie Leder-….! Wir trieben viel Sport, wenn auch oft mit unzureichenden oder selbst gebastelten Mitteln unter besonderen Bedingungen. Als ich sechzehnjähriger Fußballspieler in der A-Jugend des VfV Hildesheim war, fuhr die gesamte Mannschaft mit dem Fahrrad zu einem Spiel nach Schellerten – Trainer Fritze Fischer radelte fröhlich an der Spitze der Kolonne! Das sollte man heute einmal von einer Jugendmannschaft verlangen – die würde geschlossen den Verein wechseln! Wir waren gesund, hatten kein Übergewicht – es gab aber auch noch keine Computer, vor denen man stundenlang sitzen kann – und Mc Donald‘s gab es auch noch nicht.
Außerdem hatten wir Kinder ausreichend Platz zum Spielen. Die vielen Ruinen waren Abenteuerspielplätze, das Gebiet zwischen dem Moritzberg und Himmelsthür war noch nicht bebaut, der Rex-Brauns-Sportplatz an der Schützenwiese. war nicht eingezäunt und frei zugänglich. Wir spielten damals am liebsten auf dem mit Büschen und Bäumen bewachsenen “Felsenkeller“ – dem großen Luftschutzbunker zwischen Elzer- und Zierenbergstraße. Heute steht dort das Gebäude eines Kindergartens und das Gelände ist eingezäunt.
Die meisten Erwachsenen fühlten sich irgendwie verantwortlich für die jungen Menschen. Sie mischten sich ein, wenn ihrer Meinung nach etwas nicht in Ordnung war, wenn ein Vierzehnjähriger auf der Straße rauchte, Papier fallen ließ oder andere bedrohte. Das war uns nicht immer angenehm, aber ob das resignierte Wegsehen der Erwachsenen von heute besser ist? Bequemer für die jungen Leute ist es auf jeden Fall. Veranstaltungen wie die “Zeugnisfete“ auf der Lilie, bei der ein von der Stadt bezahlter Disc-Jockey die schlechtesten Zeugnisse vorliest und bejubeln lässt, wo hemmungslos geraucht und Alkohol getrunken wird, wären wohl nicht möglich gewesen.
Dieses Verantwortungsgefühl für die Jugendlichen änderte sich dann mit der sog. „Revolte der 68er-Studenten-Bewegung“ (ich habe mein 1. Staatsexamen im März 1968 abgelegt – gehöre also auch dazu!). Alles, was für “typisch deutsch“ gehalten wurde, stellte man in Frage, nicht nur die NS-Geschichte, die Vorgeschichte dazu, und ihre Bewältigung wurden kritisch betrachtet (was durchaus berechtigt war), auch bewahrte Tugenden und Verhaltensweisen wurden angegriffen (0. Lafontaine: “Mit Pflichtbewusstsein kann man auch ein KZ führen!“) Das brachte den Jugendlichen zwar mehr Freiräume, die übertriebene Liberalisierung aller Lebensbereiche führte sie aber auch in eine tiefe Identitätskrise! Was war überhaupt noch richtig?
In der Erziehung traten frühere “Basiswerte“, wie Ordnung und Sauberkeit immer mehr in den Hintergrund – die negativen Folgen sind u.a. in den mit Graffiti verzierten Städten zu besichtigen.
Auch die Jugendlichen um 1945 waren keine Engel, aber der Grund für das “Kohlen-klauen“ von den Kohlenzügen, z.B., war nicht die Habgier des Einzelnen – es war nötig zum Überleben der Familie im Winter (die ich als “richtige“ Winter mit starkem Frost und viel Schnee in Erinnerung. habe), aber auch zum Essen kochen wurden Kohlen benötigt. Selbst der damals bekannte und sehr angesehene Bischof von Köln, Kardinal Frings, hat dieses Stehlen als “organisieren“ entschuldigt; danach wurde dieses Vorgehen allgemein auch “fringsen“ genannt.
Die Erziehung nach 1968 wurde freier und weniger autoritär, die Jugendlichen wurden selbstständiger und selbstbewusster. Leider trat dann aber das Streben nach “Selbstverwirklichung“ ohne Rücksicht auf andere bei vielen jungen Menschen immer mehr in den Vordergrund. Von den Eltern wird erwartet und gefordert, dass sie widerspruchslos und ohne Gegenleistung alles zur Verfügung stellen, was man braucht, um in der Gruppe anerkannt zu werden, von der Designer-Jack bis zum Marken-Handy, und der Gruppendruck ist erheblich. Eigenschaften wie Fleiß, Sparsamkeit und Einsatz für andere werden oft belächelt und abgelehnt. Viele Eltern vermeiden unerfreuliche Auseinandersetzungen darüber und geben widerstandslos nach.
Es gab bis etwa 1970 auch noch keine Multi-Kulti-Probleme mit Jugendlichen, die aus einem fremden Land oder Kulturkreis mit ihren Eltern nach Deutschland kommen, um hier für die Zukunft möglichst gut zu leben, die aber zwischen den Kulturen und Lebensweisen ihres Herkunftslandes und Deutschlands stehen und sich nur schwer auf die deutsche Lebensform einstellen können (oder wollen).
Erziehungs- oder Einordnungsdefizite bei den Jugendlichen wirken sich natürlich auch auf die Leistungen in der Schule aus, obwohl gerade im späteren Berufsleben die Bedingungen erheblich schwieriger geworden sind. Wer um 1950 mit einem Hauptschulabschluss die Schule verließ, bekam jederzeit eine Lehrstelle in einem Handwerksbetrieb und wurde nach der Lehre in der Regel im Betrieb eingestellt.
Heute schreiben selbst Schuler mit guten Realschulabschlüssen oft zwanzig Bewerbungen, ehe sie einen Ausbildungsplatz finden, Hauptschüler haben kaum eine Chance. Ein guter Abschluss der Ausbildung bedeutet dann aber noch nicht die Übernahme durch den Betrieb- immer weniger Ausbildungsplätze führen zu immer höheren Anforderungen an die Bewerber.
Eine gute Erziehung kann aber bei einer Bewerbung, besonders bei einer Probezeit in einem Betrieb, sehr hilfreich sein, und es gibt einige Anzeichen, dass in dieser Hinsicht bei den Eltern ein Umdenken erfolgt und traditionelle Werte wieder mehr gefordert werden. Kinder brauchen Eltern, die ihnen geduldig zuhören und Aufmerksamkeit schenken, die aber auch den Mut und die Nervenkraft aufbringen, ihnen Grenzen zu setzen. Diese elementaren Erziehungsaufgaben können Kindergärten und Schulen allein nicht leisten. Eine Neu-Orientierung der Erziehung in diese Richtung wäre den Jugendlichen sehr zu wünschen.
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Mechthild Hoffmann
Workshop-Teilnehmerin
Die kleine Tasse,
einen Goldrand hat sie, und drei spielende Kinder schmücken sie außen. Der Henkel endet am Tassenboden, und der schmale Goldstreifen am Henkelbogen ist nicht abgegriffen. Sogar die Aufschrift in Goldfarbe auf dem Täßchen glänzt wie neu.
Oft ist sie wohl nicht benutzt worden. Sie stand früher immer hinter dem feinen, blau weißen Festtags – Geschirr, das durch die großen Glasscheiben des Wohnzimmerschranks zu sehen war.
Ich liebte es, wenn die Sonne den Schrank mit seinen an der Seite gewölbten Scheiben glänzen ließ. Am schönsten aber war es, wenn sich die Weihnachtskerze am glitzernden Tannenbaum in diesen Möbeln, Buffet genannt, spiegelten. Das Wohnzimmer war groß, und die Fenster mit ihren tiefen Nischen öffneten sich über Eck nach Südosten und Südwesten. Auf dem Fußboden lag ein riesiger Teppich, auf dem wir Kinder an Geburtstagen um den Tisch in der Stube herummarschierten. Unser Vater spielte Klavier und wir sangen aus Leibeskräften. Wir, das waren meine Geschwister und unsere „Spielkameraden“, so wurden die Freunde damals genannt.
An meinem siebten Geburtstag wollte ich „meine kleine Tasse“ auf meinem Platz haben. Ich fühlte, daß meine Mutter sie ungern hervorholte. Warum wohl, ich hatte doch „bitte“ gesagt? Zwischen den bunten Kinderbechern sah das Porzellantäßchen auf einer Untertasse etwas „unpassend“ aus, Die Goldschrift glänzte:
Es war ein schönes Fest für uns Kinder gewesen. Alle Mädchen hatten weiße Kleider an und trugen weiße Leinenschuhe, die mit Schlemmkreide getunkt worden waren. Die Mütter hatten Blumenkränzchen für uns geflochten. Das meiner kleinen Schwester rutschte immer wieder von ihrem Kopf, und ich hatte not, es andauernd dort zurecht zu rücken. Die Jungen hatten es einfacher. Sie hatten nur ein Anstecksträußchen. Stolze Fahrradbesitzer hatten die Speichen ihrer Räder mit bunten Papierstreifen umwunden und Hakenkreuzfähnchen an die Lenkstange gesteckt. Einige der größeren Jungen trugen braune Hemden und Schulterriemen zu kurzen schwarzen Hosen. Sie sahen genau so aus wie der kleine Junge auf meiner Fibel. Das „Lesebuch“ meines älteren Bruders hatte ganz anders ausgesehen. Es war grün und bunt gewesen und nicht so glatt und braun mit den „Pimpfen“ auf dem Deckel. –Ach, ja, bei diesem Schulfest gab es zum Schluß für alle Kinder Geschenke. Ich hatte diese kleine „richtige Tasse“? mit Untertellerchen bekommen. Jahrelang wußte ich nichts mehr von ihr.
Als meine alten Eltern in meine Nähe zogen, kam die kleine Tasse mit dem heil geschriebenen Festtagsgeschirr hierher. Jetzt erst hüte ich sie bei meinem eigenen Porzellan. In den Erinnerungen passt sie nun doch auf meinen Platz nur – die Untertasse ging verloren-
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Ursula Fürst
Workshop-Teilnehmerin
*1938 in Köln
Beruf Übersetzerin
verheiratet, 2 Kinder
lebe seit ca. 20 Jahren in Hildesheim
Als das weiß-rote Kaffeekännchen brannte
Christina versuchte, so schnell es ihr möglich war, die Treppenstufen zu erklimmen. Sie wollte noch vor ihrer Mutter oben an der Wohnungstüre sein, um durch das Flurfenster einen raschen Blick auf das Nachbarhaus zu erhaschen, das nur durch einen schmalen Lichtschacht von ihrem Haus getrennt war. Aber sie war gerade erst geweckt worden und die Beine versagten fast den Dienst an den hohen Stufen. Als ihre Mutter sie erreichte, ging sie absichtlich langsamer, um sich von ihr überholen zu lassen.
Sie kamen aus dem Luftschutzkeller, wo sie fast jede Nacht einige Stunden verbringen mussten. Anfangs hatte sie sich vor dem düsteren Keller, wo es nach Briketts und Kartoffeln roch, gefürchtet. Ihre Mutter hatte sie auch tagsüber, wenn es dort unten etwas heller war, mit hinuntergenommen, damit sie sich an den Raum gewöhnen konnte. Inzwischen hatte sie keine Angst mehr und konnte auf einem der harten Holzstühle, auf denen sie sitzen mussten, sofort einschlafen. Sie wurde manchmal wach, wenn der Angriff begann und die feindlichen Flugzeuge sich näherten. Aber sie dachte sich nichts dabei und schlief gleich wieder ein, selbst wenn Bomben in der Nähe fielen, so dass die Schallwellen die Erde erzittern ließen. Sie wunderte sich nur, dass Frauen in den Nachbarkellern schrien. Bis sie einmal aufwachte und unmittelbar in das Gesicht ihrer Mutter schaute. In diesem Augenblick erkannte sie die Angst darin und ab diesem Zeitpunkt war diese ihr ständiger Begleiter, in der Nacht und oft auch am Tage.
In dieser Nacht waren plötzlich Leute an ihrer Türe vorbeigeeilt, hastig und mit verschlossenen Gesichtern, Koffer und Taschen in den Händen. „Das Nachbarhaus brennt, eine Bombe hat eingeschlagen“, sagte die Mutter. Mitleidig betrachteten sie die fremden Leute, die mit dem Luftschutzwart wegen irgendeiner Sache in einen heftigen Wortwechsel geraten waren. „Genauso hätte es uns treffen können. Und eines Tages wird es auch soweit sein.“ Christina spürte, wie die Angst sich in ihrem Bauch festsetzte. Sie würde sie die ganze Nacht nicht wieder loswerden.
Sie hatte nun den Treppenabsatz erreicht, von dem aus sie in die gegenüberliegende Wohnung schauen konnte. Eigentlich hatte die Mutter es ihnen verboten, weil keine Gardinen vor dem Fenster hingen und man ungehindert in den Raum, eine Wohnküche, hineinschauen konnte. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass alles wie sonst war. Holzschränke füllten die Rückwand des Zimmers. Den Mittelpunkt des Raumes jedoch bildete ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf ihm lag zu allen Tageszeiten eine kleine, viereckige Decke und darauf stand ein weißes Kaffeekännchen mit roten Punkten. Dieses Kännchen schien ihrer Schwester und ihr der Mittelpunkt des Raumes zu sein. Wenn das junge Ehepaar am Tisch zusammensaß und sich lebhaft unterhielt, schenkten sie sich aus dem Kännchen nach. Oft standen sie mitten in der Unterhaltung auf und, und das erschien den Kindern als das Wunderbarste, umarmten sich herzlich und küssten sich. Manchmal schlichen sie heimlich aus der Wohnung, um hinüberzuschauen. Dabei war es eigentlich nicht Neugier, die sie trieb, sondern der Wunsch, eine Familie mit Vater und Mutter zu beobachten, Das weiße, bauchige Kännchen mit seinen roten Punkten erschien ihnen so etwas wie der Wächter über dieses Glück, das es bei ihnen nicht mehr gab, seit der Vater zum Militärdienst eingezogen worden war.
Nun, da sie das Flurfenster erreicht hatte, stellte sie sich leise, damit ihre Mutter es nicht merkte, ans Fenster. Die unterste Wohnung des Nachbarhauses war schon ausgebrannt und das Zimmer, das sonst durch dichte Gardinen vor fremden Blicken verborgen war, lag nun nackt und verkohlt vor ihr. In der darüber liegenden Etage tobte das Feuer noch und erhellte den ganzen Raum mit orangefarbenem Licht. „Bald wird auch das Kaffeekännchen brennen!“ Ihre Schwester stand plötzlich neben ihr. Da öffnete sich drüben die Tür und das junge Paar, das dort wohnte, stürzte herein. Sie rannten planlos hin und her, schauten in Schubladen und Schränke, um sie dann ordentlich wieder zu schließen. Unmittelbar drehten sie sich zueinander und umarmten sich. Dann verließen sie gemeinsam den Raum und schlossen die Tür sorgfältig hinter sich.
Der Raum lag nun wieder verlassen da. „Jetzt, wo alles verloren ist, umarmen sie sich,“ meinte Christina nachdenklich. Die Kinder hatten beobachtet, wie das junge Ehepaar sich im Laufe der Wochen und Monate nach und nach entfremdet hatte. Sie aßen kaum mehr zusammen am Tisch und stritten sich immer häufiger, bis man sie überhaupt nicht mehr zusammen sitzen sah. Es kam den Kindern so vor, als ob eine heile Welt, die es ja auch nicht mehr bei ihnen gab, zerbrochen sei. Nur noch das weiße Kännchen mit seinen roten Punkten stand an seinem Platz.
Gespannt beobachteten die Geschwister den Raum. Was würde passieren? Still standen die Möbel da , ernst und gefasst. „Wenn wir doch das Kaffeekännchen retten könnten“, sagten sie. Plötzlich kräuselte Rauch an den Rändern durch die geschlossene Tür herein, nur für einen Augenblick und verzog sich sogleich wieder. Dann leckte am Boden eine Flammenzunge hervor und verschwand. Doch im gleichen Augenblick erschienen rund um den Türrahmen unzählige Flämmchen, kamen und zogen sich zurück. Schon wurden sie länger am unteren Rand der Tür. „So ist das also, wenn etwas brennt“, flüsterte ihre Schwester. Obwohl sie mitten im Krieg lebten, hatten sie noch nie wirklich einen Brand miterlebt. Ihre Mutter hatte es bis jetzt verhindert, um die Kinder nicht unnötig zu beunruhigen.
Immer mehr Flammen züngelten hervor, unaufhaltsam wie eine Armee auf dem Vormarsch. Sie suchte sich ihren Weg zu den hölzernen Schränken, unbekanntes Terrain erkundend. Sie krochen über den Boden, machten sich flach und lang, bis sie die Schränke erreicht hatten, um langsam an ihnen hoch zu kriechen. Jetzt schienen sie an Sicherheit zu gewinnen, denn nun ging ihr Vormarsch immer schneller und schneller. Schon hatten sie die Holzfronten mit einem dünnen rötlichen Schein überzogen, der die einzelnen Konturen besonders hervorhob, und dann dauerte es nur eine Sekunde, bis alles in hellen Flammen stand.
Das Kaffeekännchen stand immer noch unberührt an seinem Platz. Doch jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Mit einem lauten Knall zerplatzten die Fensterscheiben, Luft drang ein und sofort stand der ganze Raum in Flammen. Die Luft schien lichterloh zu brennen. Der ganze Raum war ausgefüllt mit gelber Lohe, feurig und alles verderbend. Noch einen Augenblick hielten die Gegenstände der Kraft des Feuers stand. Christina starrte auf das Kaffeekännchen, wie um ihm durch ihren Blick zu helfen.
Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, war es verschwunden. Es hatte sich in Nichts aufgelöst. Christina starrte ungläubig auf den brennenden Tisch. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Dann brachen die übrigen Gegenstände zusammen, wurden schwarz und zerfielen langsam. „Kommt jetzt ins Bett“, rief ihre Mutter von der Wohnungstüre her. Ohne sich noch einmal umzudrehen, gingen sie hinein.
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