Lyrik-Park 2010
Lyrik ist immer an eine materielle Form oder Struktur gebunden (denken wir an Buchstaben und Papier), ohne die sie nicht existieren kann… gleichzeitig kann sie, ja muss sie über ihre materiellen Grenzen hinauswachsen in ein anderes neues Energiefeld, das wir Poesie nennen.
Poesie jedoch kann überall sein: auch in einer Tat, einer Handlung, einem flüchtigen Augenblick und bedeutet viel mehr, als unser Verstand und seine Logik hergeben können. Es ist vielmehr die Klugheit der Sinne, die Weisheit der Seele, die sich in der Poesie ausdrückt. Das ist die Grundidee des Lyrik-Parks!
An dieser Stelle möchte ich den vielen (vielen) Installations- und Aktionskünstlern danken, die nicht nur aus Hildesheim sondern von weit her (auf eigene Rechnung) angereist sind, um hier im Lyrik-Park mit großer Akribie und Leidenschaft ihre Kunstprojekte zu verwirklichen.
Eröffnungsrede von Jo Köhler
Sehr geehrte Damen und Herren!
Verehrte Gäste! Liebe Freunde, Literaturinteressierte und mitwirkende Künstler!
Herzlich willkommen zum zweiten Hildesheimer Lyrik-Park, dem großen Fest der feinen Sinne hier auf dem Marienfriedhof, diesem wunderschönen Ort. Wie bringen wir die Kunst und Literatur zu den Menschen? Wie entdecken und fördern wir das schöpferische Potential in jedem einzelnen? Worin liegt überhaupt die Relevanz von Kunst und Kultur in dieser Zeit? Einer Zeit des rasenden Stillstandes.
Beständigkeit und Wandel. Liebe und Tod. Was heißt das, wenn die Gesellschaft sich immer weiter säkularisiert (auseinanderlebt) und gewohnte Kulturbegriffe verschwinden? Wohin gehe ich? Wo bleibe ich? Um Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, haben wir schöpferische Menschen aller künstlerischen Gattungen und Disziplinen eingeladen, die zu diesem Thema eine gute Idee hatten und die schöpferische Kraft (Leidenschaft) diese auch umzusetzen.
Über 400 Künstler aus 10 Ländern (Dichter, Klangpoeten, Kabarettisten, Musiker, Bildhauer, Maler, Medienkünstler, Objektgestalter, Modedesigner, Drucker, Setzer, Schauspieler, Typographen, Grafiker, Steinmetze, Aktionskünstler, Fotografen, Filmemacher und freie Künstler) haben sich mit Programmen und Projekten beworben; mehr als 250 von ihnen sind nun im Lyrik-Park 2010 vertreten. Neben vielen hochkarätigen Kunst- und Kulturschaffenden (darunter drei Grimme- Preisträger und sogar ein Karlspreisträger, wenn ich hier Jean-Claude Juncker aus Luxemburg als eine der prominentesten Stimmen aus Europa mit seinem wunderbaren Grußwort zum Hildesheimer Lyrik-Park dazu zählen darf) sind auch viele Jugendliche, Schüler und schöpferische Menschen – nicht nur aus dem bürgerlichen Milieu sondern aus allen Schichten der Gesellschaft beteiligt.
In über 100 Einzelveranstaltungen und 60 Ausstellungsprojekten verschaffen sich die Künstler im Lyrik-Park Gehör. Durch die Kombination von Ort und Wort entsteht hier ein einzigartiges Zusammenspiel von künstlerischen Ideen und Entwürfen, die sich anderswo ausschließen oder verdrängen und sich hier ergänzen. Jeder Ort hat seinen eigenen Seelenzustand und wenn man ihn betritt, geht er auf einen über; genauso ist es mit dem Lesen oder Auflesen von Gedichten… und dem Durchwandern des Parks.
Lyrik verstehen wir hier nicht als Zwangsjacke schulischer Versformen sondern eher als Synonym für einen neuen Kunstbegriff, als Chiffre für poetisches Handeln. Wobei das wichtigste am künstlerischen Vorgehen gar nicht das ist, was uns der Künstler damit sagen will, sondern vielmehr das ist, was sich in unseren Köpfen und Herzen erst herausbildet, wenn wir ein Kunst-Werk vergegenwärtigen. Diese Bilder kreisen dann wie Elektronenschalen um einen festen Kern, den man zwar nicht sehen, aber spüren kann. Gäbe es keine Kunst, keine Musik, keine Poesie auf der Welt, blieben alle wesentlichen Dinge für uns unsagbar… unfassbar.
Gewiss! Kultur, die sich nicht rechnen – nicht ökonomisieren lässt, kostet Geld; und lange stand es auf des Messers Schneide, ob wir ein Literaturfest dieses Formates in Hildesheim überhaupt noch mal würden veranstalten können?
Doch gerade in einer Zeit, wo die Welt medial auf ein einziges „Dorf“ zusammen geschrumpft zu sein scheint, die Ereignisse via Satellit und Internet in Echtzeit und Lichtgeschwindigkeit übertragen werden und wir uns kulturell nicht mehr national sondern global ausdrücken, ist das Singuläre im Leben, das Einzigartige in der Kunst und Literatur für unsere Identität wichtiger denn je! Wie sonst können wir unsere Geschichte und die Erinnerung daran weiter formulieren?
Ein Kunstwerk kann zwar überall (auch virtuell) ausgestellt und angeschaut, aber nicht überall verstanden werden. Austauschbare Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe oder das Internet, die nur dafür da sind, möglichst schnell hindurchzugehen und woanders (oder auch nirgends) anzukommen, sind ein typisches Zeichen dafür.
Aber das Glück braucht einen Ort, unverwechselbaren Ort… genau wie die Literatur und Kunst immer wieder einen Ort braucht: wie den Lyrik-Park in Hildesheim zum Beispiel.
Wie gesagt Kultur kostet Geld, aber es ist gut angelegtes Geld. Deshalb möchte ich den Fördereinrichtungen und vor allem den Menschen in diesen Institutionen danken, welche die notwenigen Mittel für dieses aufwendige Projekt zur Verfügung gestellt haben:
Dank an das Land Niedersachsen, die Friedrich Weinhagenstiftung, die Sparkasse Hildesheim und die Stadt Hildesheim.
(bei mir steht Applaus)
Ich komme zum Schluss…
„Das Glück ist ein Engel mit ernstem Gesicht“ schrieb der Zeichner, Maler und Bildhauer Amadeo Modigliani kurz vor seinem Tod 1920 in Paris; er war ein Künstler, der zu Lebzeiten keinen Erfolg hatte; erst nach seinem Tod erzielten seine Bilder Höchstpreise.
Nicht weit von hier befand sich Anfang des 19. Jahrhunderts auf dem Marienfriedhof das sogenannte Totenhaus, wo die Verstorbenen nicht nur aufgebahrt sondern auch mit allerlei Apparaturen: Schellen, Glöckchen und Spiegeln versehen wurden, damit man im Fall von Scheintot (Intensivmedizin gab es noch nicht), sofort hören und sehen konnte, ob noch Leben in einem war.
Lassen Sie uns nun schauen, wie viel Leben – Lebendigkeit noch in unserer Kultur und der Kunst der Lyrik steckt! Ihre Wahrheit genügt sich nicht immer nur in der Logik… um ihr näher zu kommen, muss man sich hier und da widersprechen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen beim Lustwandeln von Ort zu Ort in diesem herrlichen Park viele vergnügliche und erstaunliche Momente. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!