LeseZeichen 2014
Mit über 60 Gedichtbannern an prominenten Gebäuden und Plätzen holen wir wieder die Literatur zwischen verstaubten Buchdeckeln hervor und setzen sie ins Freie, ins Offene – mitten in der Stadt. Hauptbahnhof, Fußgängerzone, Kirchen, Bushaltestellen, Buchhandlungen, Museen, Einkaufspassagen, Kino und Theater werden so für 6 Monate zu einem Hort der Poesie, der 24 Stunden täglich geöffnet hat.
Mit den Gedichtinstallationen laden wir alle Hildesheimer und Besucher der Stadt zu einem literarischen Rundgang und Entdeckungsreise durch die zeitgenössische Lyrik ein. Jeder Ort hat seinen eigenen Seelenzustand und wenn man ihn betritt geht er auf einen über, so ist es auch mit dem Lesen und Auflesen von Gedichten.
45 Dichter und Dichterinnen aus 8 Nationen [darunter Russland, England, Österreich, Schweiz, Schweden, Griechenland, Brasilien, Deutschland] von noch unbekannten Autoren bis zum Großschriftsteller und Literaturnobelpreisträger sind hier mit eigenen Werken beteiligt; wie z.B. Günter Grass/ Roger Willemsen I Tomas Tranströmer / Udo Jürgens/ Eugen Ruge / Wjatscheslaw Kuprijanow. Aber auch viele Hildesheimer Autoren vom 1O-jährigen Jungen, der über seine erste Liebe schreibt bis zur 74-jährigen Literatin, die in einem Gedicht schildert, wie sie den sicheren Kokon ihrer Wohnung verlässt und auf die Straße geht.
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Programm
Lebensräume – Lebensträume
Grußwort des Oberbürgermeisters Dr. Ingo Meyer
Schon zum dritten Mal findet die vom Forum-Literaturbüro e.V. initiierte Lyrikinstallation „Lesezeichen“ statt. Ich freue mich sehr, die Schirmherrschaft für dieses einzigartige Projekt mit bundesweiter Strahlkraft übernehmen zu dürfen. Mit mehr als 60 Gedichten, die auf großflächigen Bannern an den verschiedensten Gebäuden in der Stadt Hildesheim angebracht sind, hat sich die Zahl der überdimensionalen Lesezeichen im Vergleich zum Vorjahr nun schon verdoppelt. Die Lesezeichen kommen an! Dieser Erfolg zeigt sich auch durch die große, auch finanzielle Unterstützung des Projektes durch verschiedene öffentliche und private Unternehmen und Institutionen. Wie erfolgreich dieses Projekt ist, zeigt sich auch daran, dass es auch in diesem Jahr wieder gelungen ist, internationale Schriftsteller aus acht verschiedenen Nationen für das Projekt zu gewinnen. Darunter befinden sich auch die beiden Literaturnobelpreisträger Günter Grass und Tomas Tranströmer sowie der Komponist und Sänger Udo Jürgens, die durch ihre Beteiligung ihre Anerkennung für das Hildesheimer Lyrik-Projekt ausdrücken. Daneben haben sich viele Hildesheimer Autoren aller Altersstufen an diesem besonderen Projekt beteiligt und prägen nun für die nächsten sechs Monate das Stadtbild mit ihren persönlichen lyrischen Beiträgen. Das Projekt Lesezeichen besteht neben den monumentalen Gedichtbannern auch aus zahlreichen weiteren Aktionen zur Lese- und Sprachförderung bei Kindern und Jugendlichen. Ich bin stolz auf dieses bundesweit einmalige Hildesheimer Projekt und hoffe, dass Bürgerinnen, Bürger und Gäste unserer Stadt sich auch in diesem Jahr wieder von den Texten der Autoren in ihren Bann ziehen lassen. Vielleicht halten Sie dann einen Moment inne und lassen ihren Lebensraum zu einem Lebenstraum werden.
Montage 2014
Alle Texte 2014
Identisch
hier darf ich sein
hier wird nichts gegen mich verwendet
hier kann ich jederzeit herkommen
und wieder fortgehen
hinaus über die Berge und Täler
durch die Wüsten und Meere
meiner Logik
als wären ich und mein Sehnen eins
mit dem frischen Gras
in der Steppe und dem Zebra
das es frisst
Jo Köhler
Durchstoßene Zeit
Durchstoßene Zeit
Die Ränder tropfen blutrot
Die zerstörten Träume schreien blind
Fall ins schmerztrockene Nichts
Sekundensplitter
Bohren Lichtzeichen
Auf das zerfurchte Firmament
Erzählen das Leben
Nora Steen
Bahnsteigkante
du fährst
und ich hoffe
fürchte jedes Mal
den Augenblick, der
mich zurücklässt
beiseite
wie gesagt
ich hoffe und
fürchte jedes Mal
den Engel zwischen
uns, der da lächelt
mit ernstem
Gesicht
Jo Köhler
Der wilde westen
Weit weg dort
das ist alles europa
wo die serben tamo daleko singen
wo die englaender mit ihrem ganzen england nach amerika segeln
wo die franzosen taeglich im chor die bastille einnehmen
wo die spanier tanzen und rache fuer den raub europas schwoeren
wo die deutschen papiere sortieren und um die gesundheit laufen
wo bei den schweizern ein jeder sein loch im kaese hat
wo die hollaender hoffnungsvoll die invasion der don quijotes erwarten
wo die schweden die daenen besuchen gehen
wo die italiener auf ihrem einen bein huepfen
wo die polen noch nicht verloren sind
wo die tuerken im stillen ihr byzanz wiederaufbauen
wo die russen nicht wissen
wo sie sind und dieses europa sein wollen
Wjatscheslaw Kuprijanow
scharfkantiges Blau
scharfkantiges Blau
an dem man Gesicht u. Hände schneidet (ein Bogen Papier)
die Ohren bluten (innerlich)
der Wind faltet Blätter u. Stengel
sägt Sand zu Tieren
diamantenscharf faucht das Scherenschnittgras
stäubt,
eine Wolke –
alles zu Pulver
Bettina Hartz
In Sternennächten
In Sternennächten
Sitze ich wartend am See
Meine Angel tanzt
Nicole Stellfeld
Durchträumt fliegen die Tage
Durchträumt fliegen die Tage
das Morgen verschwindet im Nebel
das Herzlaub erzittert vom Aufprall der Regentropfen
im Sturm tanzt es sich in den Tod.
Die Muschel hat sich verschlossen
wartet bis zum Frühling
vielleicht gibt es ja ein Morgen
und ein Leben danach.
Wenn der Wind durch die Seele peitscht
sammelt sich das Strandgut hinter dem Horizont
Viel Unrat und hin und wieder –
ein Rest Glück.
Nora Steen
Goldgräberstimmung
die straße mit dem loch im socken
der geruch aus dem innern nostalgischer schränke
ein haarriss im abspann des blutleeren raums
ich bin der mit dem schienbein
fünfzigtausend küsse tief
in deine kugelsichere nacktheit vergraben
du bist das mädchen von der datumsgrenze
und tropfst entrümpelt in die stille
auf der dunklen seite des liedes
wir sind das volt
der brandfleck im schlitzohr des heiligen geistes
und was uns lockt am ewigen nichts ist der folgende tag
freundlich wie eine handgranate
auf der stirnseite des hochgekrempelten universums
(mit dem knochenmark gedacht)
Michael Zoch
Wenn die Zeit stehen bleibt…
Wenn die Zeit stehen bleibt…
fällt eine
Feder trotzend, sehr langsam,
um dem
Trotz Dauer und Gewicht zu verleihen.
Sand
rieselt leise weiter, Korn für Korn,
in die
Tiefe, die unmerklich
in
Bewegung gerät.
Ein
Tropfen rutscht noch immer auf Glas,
lässt
sich spalten
und nochmal
spalten
in zig
andere Tropfen,
die die
Zeit durch Löcher schubsen,
und an
undichten Stellen
sacht triefen
lassen
immerfort.
Chandal Nasser
Moderne Zeiten
Man kann sich auf nichts
mehr verlassen
Nicht mal auf
die eigenen Vorurteile
Jo Köhler
Für Dich
Meine leeren Schuhe
sind voller Reisepläne
und wissen Umwege,
die alle zu Dir führen.
Günter Grass
Falter vertrauen
Falter vertrauen
Unbedacht dem hellen Schein
Verbrannte Flügel
Jutta Johannwerner
Gehe im Licht
Gehe im Licht
Aber mein Schatten
Ist immer hinter mir
Bläst kalten Hauch
In meinen
Nacken
Birgit Waldhoff-Blum
Rot
Rot
Wie Blut
Mit einem Faden
Ist mein Mund vernäht
Schweigen
Birgit Waldhoff-Blum
Auf deinem Stern
Auf deinem Stern
Tanze ich mit dir um den Tag
Wir bauen eine Luftschaukel
Und malen die Wüste blau
Wir essen Chips bis in den Morgen
Und träumen uns die Vergangenheit heil
Schwingen ins Gestern und springen ab
In der Zukunft
Zu Besuch bei dir
Halte ich den Zeiger an
Und du musst mutig sein
Und den Zeitsprung kitten mit Liebe
Ansonsten gehe ich.
Du weißt.
Ich fliege ins Morgen
Und du frierst dich fest.
Nora Steen
lavendelatem
lavendelatem
über die fluh bricht bläue
in diesen rauhwackensommer
kalkklüftig war das jahr
und ohne geschichten aus dem mandelland
und ohne das meer
das dir salz ins gesicht wirft
lass flattern dein weißes kleid wie ein segel
leg ab das schwarz
die witwentage sind vorbei
häng dein haar in die gischt wie ein netz
die fische können heut fliegen
Werner Weimar-Mazur
Ohne Titel
er sieht
das schwarze Loch
auf sich zu kommen
keine Kraft
sich dem Sog
entgegen zu stellen
Ehefrau
Kinder
Enkel
Wohnung
reichen nicht als Halt
er ist über 50
arbeitslos
aussortiert
und das Amt
zahlt nicht mehr
keine Aufgabe
keine Anerkennung
tagsüber allein
die Frau im Büro
er fällt
kein Boden mehr
unter den Füßen
ein kurzer Schmerz
vorbei
Sonja Wagner
Psychoterrorpie
Sektiererisch impfst Du
Klischee-Parolen
Ins Nervenkostüm
Aus Samt und Seide
Red’ mir ins Gewissen
Schalt’ mich aus
Mein schwindender Wille
Fügt sich dem Takt
Aus bohrenden Fragen
Fragenden Blicken
Und verdeckten Notizen
Geheimnisvoll
Mit salbenden Worten
Hakst Du mich ab
Vom Katalog
Der Diagnosen
Dem Spiel Deiner Mine
Von kruder Distanz
Ausgeliefert
Durch kaltes Kalkül
Sitz ich seelenbalsamiert
Auf ungelösten Sorgen
Endlich regt sich Widerstand
Doch die Stunde ist um
Frank Findeiß
Purpurner Augenblick
Da fiel uns
die Zeit aus der Zeit
Wir tanzten
wie in frühem Wasser
Die Welt war innen
Außerhalb der Wölbung
war nichts
Und jeder Wunsch
stürzte an seinen Ort
Angelica Seithe
„Und?“ fragte Herr Gottlieb
„Und?“ fragte Herr Gottlieb, „alles im Lack?“
„Und selbst?“
„Kann nicht klagen.“
„Wollen täten Sie aber schon, was?“ flaxte Herr Hopp.
Man sieht, die beiden begegneten sich nicht zum ersten Mal. Um genau zu sein, sie begegneten sich jeden Morgen,
wenn Herr Gottlieb seine Laune nacheinander an seiner Frau, den Blumen, der Tochter, dem Wetter oder der Luft
ausließ, während Herr Hopp seine Tiere ausführte und sich seines Lebens freute.
….
Warum Herr Hopp am frühen Morgen ein Dromedar spazieren führt? Warum nicht? Wer hätte nicht mal Lust darauf?
Aber die meisten Menschen sterben, liegen da und denken: Nicht ein einziges Dromedar hab ich in meinem Leben
ausgeführt. Das hätte mir auch mal früher einfallen können. Aber dann ist es zu spät. Vielleicht sagen sie aber
auch: Ich bin zu wenig Riesenrad gefahren, zu selten durch Laubhaufen gelaufen.
Roger Willemsen
Engel
Engel
Erheben sich
Flügel breiten sich aus
Die Dämonen lachen
Der Kampf
Beginnt
Christiane
Lauschen dem Graben der Maulwürfe
nachts wälzen wir uns schlaflos
in den Betten herum
unruhig
lauschen nicht den Flugzeugen
die über dem Haus kreisen
lauschen nur dem Graben
der Maulwürfe
im Garten
sogar Kellerasseln und Ameisen
sind unüberhörbar
auf der Flucht vor diesen Geräuschen
laufen wir tagsüber
gegen unsichtbare Bäume
tragen das Wort Glück in den Armen
bergen es
überzeugt
Glück gedeiht nur
im beschreibbaren Unglück
träumen uns auf steinigen Wegen
umschmeichelt vom Südwind
und wir
lebenslang unterwegs.
Ingo Cesaro
Mit dem Flugzeug flog ich
Mit dem Flugzeug flog ich
durch die Liebe mein Herz
hatte Schmerz und ich
flog durch die Wolken.
Wir schweben jetzt
zu zweit und bleiben
nich´ kleben
Mike Schäfer, 10 Jahre
Waldleben
(für Julia Butterfly-Hill & Luna)
Irgendwann einmal wird sich der Wald
vielleicht die Städte wieder holen;
als hätten irgendwelche Götter es befohlen,
wäre die Menschheit wie ein Schrei verhallt.
Die Straßen würden brechen und schon bald
würden die Häuser wie Gebeine oder Fragen
ohne Antwort aus dem Boden ragen
als stumme Zeugen einer höheren Gewalt.
Auch ohne Uhren werden Bäume alt;
sie bräuchten keine Zahlen für die Jahresringe.
Vergessen wäre Zweck und Name aller Dinge
und alles, was den Menschen etwas galt.
Andreas Steinert
In ein Meer aus Stille
dieser Tropfen, der eine komplette
Welt enthält, verliert
dieser Tropfen, der wie Milliarden anderer
direkt vom Himmel fällt, eintaucht
untergeht
vielleicht die Botschaft, auf die ich warte
hoffe
vielleicht die homöopathische Dosis
die alles ändert, öffnet
und das zerschwiegene Meer in mir
ein lange versandeter Ozean aufs Neue
zu träumen, zu branden
beginnt
Jo Köhler
Weibsbilder
Manche
Frauen sitzen
in
Schubladen
im
Nähkästchen
plaudern
sie
spielen
mit Rollen
umgarnen
dich
spinnen
tausend Fäden
zum
bunten Band
fesseln
dich
sperren
dich ein
bei
den Knöpfen
ganz
unten
Marion Hinz
Was es ist – Hartz IV
(nach „Was es ist“ von Erich Fried)
Es ist nötig
Sagte Schröder
Es macht anders
Sagt das Kind
Es reicht, warum arbeiten?
Sagt der Schmarotzer
Es ist zu wenig
Sagt der Empfänger
Es ist mehr, als ich kriege
Sagt der Geringverdiener
Es macht Mama und Papa traurig
Sagt das Kind
Es ist genug
Sagt die Regierung
Es ist verfassungswidrig
Sagt das Gericht
Es ist zu wenig für Kultur und Bildung
Sagt die Opposition
Es macht Einsam
Sagt das Kind
Lydia Eggers
Der Ball ist rund
Meiner hat eine Delle.
Von Jugend an drücke
und drücke ich; aber
er will nur einerseits rund sein.
Günter Grass
DAUERTEN WIR UNENDLICH
Dauerten wir unendlich
So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.
Bertolt Brecht
Durststrecken
Modellautos parken auf der Fensterbank.
Ole hat Durst.
„Was haben Sie bisher gemacht?“
„Bei der Sonderausstellung habe ich …“
„Da steht es ja. Geisteswissenschaftlerin sind Sie – alleinerziehend.“
Ole hat noch immer Durst.
„Hm. Sie sind schwer vermittelbar.“
Ich knöpfe mir die Bluse auf.
Er weiß nicht wohin mit seinen Blicken.
„Ich schlage Ihnen eine Umschulung zur Altenpflegerin vor.“
Ole ist satt, reckt sich und berührt ein Modellauto.
Der Mann springt auf. „Heilandsack! Du …!“
Das Auto fällt. Dumpf prallt es auf. Es ist ein Buick.
Der Mann geht auf die Knie. „Der Spoiler ist ab!“
Ich knöpfe meine Bluse zu: „Na, ich werde schon etwas finden.“
Aber mein Arbeitsvermittler taucht nicht mehr auf.
Monika Severith
Stillstand
Gekündigt …Arbeitslos – wie ein Schlag ins Gesicht!
Fassungslos räume ich meinen Platz.
Nicht nur meinen Arbeitsplatz, sondern meinen Platz mitten im Leben.
Aber ich habe eine gute Ausbildung und werde schon was Neues finden!
Doch der ideale Arbeiter ist wohl 20 Jahre alt und bringt 30 Jahre Berufserfahrung mit, …jedenfalls bin ich es
nicht.
Mein Alltag hat sich völlig verändert.
Ich stehe morgens nicht mehr auf, um zu arbeiten, sondern um Arbeit zu suchen.
Große Sprünge kann ich mir nicht mehr leisten, kleine nur noch ganz selten…
So bemerke ich, dass sich mein Freundeskreis immer weiter von mir entfernt.
Ich fühle mich ausgeschlossen von ihren schnellen Leben und uninteressant, weil mein Leben sich kaum noch
bewegt.
Und dann die ständigen Absagen mit immer denselben abgedroschenen Begründungen – demotivierend.
Genau wie die Betriebe, die einen zu einem Bewerbungsgespräch einladen.
Man schöpft wieder neue Hoffnung, wartet auf die Zusage, alles nur, um zu lesen:
Leider haben wir uns für einen anderen, besser geeigneten Bewerber entschieden.
Und als ob das noch nicht reichen würde, wird man von der arbeitenden Allgemeinheit als Sozialschmarotzer
beschimpft und ausgegrenzt.
Ich will doch arbeiten, aber es lässt mich keiner!!!
So verstecke ich mich. Allein. Und warte.
Warte auf eine Zusage, die mich zurück ins Leben holt.
DENN LEBEN, DAS HEIßT: VERÄNDERUNG!
Doch ich verändere mich nicht.
Ich bin stillgelegt.
Sandra Ehlers
Erste Hilfe
dein Gedicht
ist mein Sanitäter
beatmet
meine Sehnsucht
im Sauerstoffzelt
des Schweigens
bis mein Herz
wieder schlägt
geheimniswach
der Spur der Sehnsucht
folgt – für heute
gerettet
Lisa F. Oesterheld
Octo-2
Und endlich schwiegen wir.
Ich schloss die Augen und atmete deine Stille
Und deine Zeit,
Die mir das größte Geschenk war.
An allen andern Tagen füllen wir
unsere wenigen Stunden
mit der Intensität
eines ganzen gemeinsamen Lebens.
Wir halten uns
An den Händen
Und laufen so schnell
In die gleiche Richtung
Dass wir uns dabei
Nicht ansehen können
Aus Angst, über unsere
Eigenen Füße zu fallen.
Nie sitzen wir
In der Dunkelheit
Und fühlen nur
Einander
Denken nur
Einander
Hören nur
Einander.
Dabei braucht unsere
Liebe
Nur Zeit.
Alles andere
Haben wir.
Anne Zegelman
Die andere Stadt
Es gibt viele sich kreuzende Einsamkeiten – sagt er -, oben und unten
und andere dazwischen, verschiedene oder
ähnliche, erzwungene, auferlegte
oder wie freiwillig eingegangene, selbst gewählte –
immer sich kreuzende.
Aber tief, im Zentrum, gibt es nur die eine Einsamkeit, sagt er,
eine hohle Stadt, fast kugelförmig, ohne vielfarbige
Leuchtreklamen, Geschäfte, Motorräder,
mit einem weißen, leeren, nebligen Licht,
unterbrochen
von Funken unbekannter Lichtzeichen. In dieser Stadt
wohnen seit Jahren die Dichter. Sie bewegen sich
geräuschlos,
Hände gefaltet, erinnern sie sich unbestimmter,
vergessener Ereignisse,
Wörter, Landschaften,
diese Tröster der Welt, die immer untröstlichen,
verfolgten
von den Hunden, den Menschen, den Schaben,
den Mäusen, den Sternen,
verfolgt auch von ihren eigenen gesagten und
ungesagten Wörtern.
Jannis Ritsos
Beim Verlassen des Hauses.
Freilassen jetzt das erste Wort. Dein Atem morgens.
Eine Wolke aus Blüten Staub. Dem kommenden Frühjahr
ähnlich sagst du Kälte und legst die Hand um die Klinke
der Tür. Eine Bewegung wie du Flaschen öffnest
nur leiser mit Rücksicht auf Gelenke und Glas. Der Flur
noch feucht von Schritten aus dem Bad.
Später wird darauf eine Schuhsohle quietschen
links lauter. Wo du Hand Taschen trägst. Schirme.
Die Arme fädeln ein in den Tag. In Hemden. Pullover.
Wie die gelesene Zeitung faltest du Servietten. Steckst sie
statt Papiertaschen Tücher in Mantelsäcke. Jacken.
Spürst die offene Naht. Und die Lücke aus der Schlüssel
rutschen könnten. Münzen. Draußen die Erde hat noch
die Rollläden geschlossen.
Knut Schaflinger
Urlaubsgruß
Die Reise war anstrengend
Der Ort ist hässlich
Die Pension zu teuer
Das Zimmer unmöglich
Das Essen ein Fraß
Die Leute sind blöd
Das Wetter ist schlecht
Nur gut
Dass du nicht hier bist
Manfred Hausin
Herr Meier, Mitglied im Autorenkreis
Herr Meier kann sich wirklich nicht beklagen:
Er lernte so viel über Satzungsfragen,
Seitdem er Mitglied ist bei den Autoren!
Zwar fühlte er zum Dichter sich geboren
Und wollte ursprünglich mit Sätzen siegen,
Doch kann der Mensch nicht alles kriegen.
Herr Meier kennt jetzt tausend Paragraphen –
Oft lässt ihn eine Kleinigkeit nicht schlafen:
Wie war das gleich noch mit den Körperschaften-?
Und wer muss für Verbindlichkeiten haften-?
Auch lernte er die Zahlen drei und sieben
Durch das Vereinsrecht erst so richtig lieben.
Drum lobt Herr Meier die Autorenkreise:
Dort wird man tüchtig, rechtskundig und weise!
Man bastelt viel und steigt so manche Treppen,
Man muss Plakate kleben, Bücher schleppen,
Man lernt in Geld zu denken, Streit zu schlichten,
Und so verlernt man segensreich das Dichten.
Und dann die Frau! Hat ihn zum Prof erhoben
Und findet endlich wieder Grund zu loben!
„Mensch, Meier“, sagt sie oft, seit sie’s entdeckte,
„was weißt du alles über Rechtssubjekte –
du könntest beinah an der Uni lehren!“
Ja ja, der Meier kann sich nicht beschweren…
Christian Engelken
Stummschaltung
Stell dir ein Piano und einen Pianisten vor
und erwarte ihn vor einem belebten Kaufhaus in der City
oder, wenn dir das lieber ist, erwartest du ihn
an einem entlegenen Sandstrand
in der Abendsonne
Du siehst, wie er kommt
im schwarzen Frack daher schreitet, sich feierlich
und konzentriert ans Klavier setzt, seine Hände massiert
und gefühlvoll in Stellung bringt, aber nicht spielt
keine einzige Oktave
Und im Erstaunen über diese Stille
das ganze Geräusch der Welt oder zumindest Teile
davon und das Glück der Einsamkeit
in Bildern nach innen, die du
noch nie geschaut hast
das ist Lyrik
Jo Köhler
Abschiedsbrief
….
Lucky, du verführerische schlanke Dame, mit deinem krausen braunen Haar, deinem Inneren, das feurig entfacht die
größte Liebe entbrennt. Camel, du Süchtigmacherin. Du, die du es immer wieder schaffst mich rum zu kriegen. Du
Lustigmacherin mit schneeweißer zarter Haut… Wie oft habe ich versucht, dir zu entkommen? Deinem herben
Geschmack, deinem beißenden Geruch? Deiner Art, von der ich immer und immer mehr will?
….
Julia Müller, 16 Jahre
„Cabo de Gata“
Meine Wut war diffus,
richtete sich aber vor allem gegen
meinen Vater,
als wäre er schuld daran,
dass ich seine Regelmäßigkeit nachlebte
oder nachäffte,
seinen maschinenhaften Lebensstil,
seine roboterhafte Arbeitsweise,
die umso schwerer zu ertragen war,
als er damit Erfolg hatte.
Eugen Ruge „Cabo de Gata“
Copyright © 2013 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Anatomie
Wörter
sind wie lebendige Körper
mit Haut und Knochen
Organe, die funktionieren
Hand und Fuß haben
sich überall hinbewegen
Ohren und Augen
besitzen
die alles aufnehmen
Bilder, Gedanken, Träume
für uns manifestieren
atemlos zirkulieren und erst
im Gebrauch an Wahrheit
gewinnen oder
verlieren
Jo Köhler
Zersprungen
Wenn du
weg bist, fort
schweige ich
am liebsten
unangetastet
herrenlos
wie ein liegen
gelassenes
Buch, das
im Zeitraffer
vor und zurück
hastender
Gedanken
spiele
alle Seiten
verliert
Jo Köhler
Dilettantisch
Worte
die eigentlich nicht passen
und genau deshalb
gut sind
Worte
die nur schlecht ausdrücken
und genau deshalb
des Pudels Kern treffen
Worte
die nur halb wissen
und genau deshalb Raum
für Intuition lassen
Worte
die vielleicht fragwürdig sind
und genau deshalb neu
zu denken geben
Worte
die sich nicht einordnen lassen
und genau deshalb
den entscheidenden Anstoß
ermöglichen
Jo Köhler
Hecke
Überschall durchschneidet
den einsamen Vormittag.
Der Rollladen des Nachbarn
bleibt geschlossen.
Der Briefkasten
gibt keine Antwort.
Luftundurchlässig
die Isolierschicht,
mein Kokon.
Dickicht im Vorgarten.
Aber Dornröschen
emanzipiert sich.
Heute gehe ich
auf die Straße.
Renata Maßberg
ESPRESSO
Der schwarze Kaffee auf der Terrasse
mit Stühlen und Tischen prächtig wie Insekten.
Es sind kostbare aufgefangene Tropfen,
gefüllt mit der gleichen Kraft wie Ja und Nein.
Er wird aus dunklen Cafés hinausgetragen
und blickt in die Sonne, ohne zu blinzeln.
Im Tageslicht ein Punkt von wohltuendem Schwarz,
das schnell in einen bleichen Gast ausfließt.
Er ähnelt den Tropen aus schwarzem Tiefsinn,
die bisweilen von der Seele aufgefangen werden,
die einen wohltuenden Stoß geben: Geh!
Inspiration, die Augen zu öffnen.
Tomas Tranströmer, Literaturnobelpreisträger
Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte.
Aus dem Schwedischen von Hanns Grössel
© 1997 Carl Hanser Verlag, München
die leiche am pausenhof
jetzt wo wir unseren träumen
schon handschellen angelegt haben
brauchen wir keine raumentscheidungen mehr
oder ein ganzjahreszeugnis
der bagger mit den auswechselbaren
greifarmen und krallklauen
hat nur einen limes übriggelassen am rand der
riesigen grube die steinig unterm fenster klafft
jetzt wo wir unseren hoffnungen
schon sand über den kopf gerieselt haben
und der lärm unsere zwischennotenprüfungen
ins unmögliche verlächerlicht
baut ein neues schulgebäude
grabt tote geheimnisse unter dem hof hervor
vergesst sie aber nicht zu fragen
wo ist denn der rest der leiche
Maya Rinderer, Österreich
Freiheit…
Freiheit ist
eine starke Waffe
der Reichen
im Kampf
gegen die Armen
Gerechtigkeit
ist eine schwache Waffe
der Armen
im Kampf
gegen die Reichen
Wjatscheslaw Kuprijanow
beschreibung eines gedichtes
beschreibung eines gedichtes
bei geschlossenen lippen
ohne bewegung in mund und kehle
jedes einatmen und ausatmen
mit dem satz begleiten
langsam und ohne stimme gedacht
ich liebe dich
so daß jedes einziehen der luft durch die nase
sich deckt mit diesem satz
jedes ausstoßen der luft durch die nase
das ruhige sich heben
und senken der brust
Ernst Jandl
Altmodisch
Altmodisch
auf seinem
fliegenden Teppich
sitzt Gott
schmunzelt und
wirft mir ein Seil zu
mir nichts dir nichts
in die Hände gespuckt
federnd ich setze
zum Sprung an
hier hochhangeln
ist nur noch ein Klacks
schon bin ich
zu Tode erschrocken
ich könnte mich
lächerliche machen
Georg Oswald Cott
Anfang Innenseite
zuerst
schrickt man zurück
die Tiefe
ist nicht gerade
selbstverständlich
in diesen Tagen
intensivsten Daseins
auf der Außenseite
man hört man liest
dass viele dabei
verloren gehen
sich nicht wieder finden
oder
nicht durch die engen
Passagen passen
die sich auftun können
urplötzlich und unverhofft
doch wenn der durst wächst
wenn die lippen brennen
wenn auf der Außenseite
keine Quelle mehr zu finden ist
dann kannst du
gar nicht anders
dann gräbst du und gräbst
und du gehst in die tiefe
und du spürst
wie erfrischend
der kühle unverdorbene Quell
der das LEBEN
schenkt und schenkt
und er will sich ja auch
geben und schenken
der vater im himmel
und der sohn der in dir selber
und der geist
der verbindet
was im außen
getrennt schien.
Amen
Gerhard Kreuzer
Platzangst
Mama. Sie kommen auf mich zu
und knacken mit den Handgelenken
die Söhne aus zu gutem Haus.
So wohlerzogen nimmt Gewalt
Den Anlauf, nett, studentenhaft,
mit Kußmundfragen: Glauben Sie?
Ein nackter Finger: Hoffen Sie?
Die Drohung zielt, zum Schlips gebunden,
als Zusatzfrage: Lieben Sie?
Jetzt lockern sie den Knoten, jetzt:
Mitesser überlebensgroß.
Die Söhne aus zu gutem Haus.
Es ist so schön hier, auch bei Regen.
An Zigaretten glaub ich immer noch.
Mein Schnittlauch grünt, die Hoffnung auch.
Und manchmal, wenn ich mich zerstreue,
kehrt mich die Liebe mit Geduld aufs Blech.
Mama. Es hat sich Heiterkeit
Verflogen und ist überfällig.
Eng wird es zwischen Ideologen
Und Söhnen aus zu gutem Haus.
Sie kommen näher. Ich will raus.
Günter Grass
GEDICHTET
unter der sommerbirke
wie wenn auf ihren
flachliegenden wurzeln wir säßen
rücken an rücken
und dazwischen
passte kein schulterblatt
wie wenn deine/meine hand
über haut glitte über
dünnes pergament
und die sätze glattstriche
und doch der text sich
radikal veränderte
fiele nur ein wort herab
wie aus versehen
Gabriele Frings
BLUME DES JAHRES
Sie
reicht mir den
Kopf, fädelt den Hals in die
Höhenluft unterm Barfuß, errötet
im Rasen mit Blick auf
Schritt und Tritt, lässt
alle Blätter los. Die
ergründeln den Boden
unterm gezackten
gezeichneten Stern,
der den Wiesen
leuchtet:
Heidenelke.
Sie lärmt vor
Schönheit,
brüllt vor
rohem Rot,
bellt uns
ins Auge
vor Lust
und läutet
im Gras
die Se
kunde
ein,
in der
wir ste
henb
leib
en.
Ins Blaue
Schau
zwei Vögel am Himmel
die einträchtig dahinfliegen
wie in einem Bild von gleich
zu gleich
immer wieder aufsteigen
tanzend beieinander bleiben
und mutig ihre Bahnen
ziehen
vielleicht ein Pärchen
von Amseln oder Lerchen
warum nicht wir
Jo Köhler
Stillpoint
Erfolgreich
geradeaus gegangen.
Die tanzenden Götter
abgehalten.
Das Rat Pack
kontrolliert.
Die Wolke sieben
verschoben.
Den Hindi-Pop
überhört.
Plötzlich
auf freier Wegstrecke
ein Punkt
der größer wird.
Näher kommt.
Was ist… das?
Gar nichts.
Doch.
Mist!
So geht’s nicht weiter.
Am besten außen rum.
Rechts oder links dran vorbei.
Geht nicht.
Umdrehn’ geht nicht.
Bakschisch geht nicht.
Killen geht nicht.
Stillstehn.
Augen zu und …
sich berühren lassen.
Wahnsinn!
Es ist gewaltig.
Gewalttätig.
Tut weh.
Schmerzt.
Verletzt.
Zerreißt.
Geschehen lassen.
Wer hätte das gedacht?
Dahinter ist Freude.
Anke Wogersien
Ich glaube
Ich glaube – dass der Acker, den wir pflügen,
nur eine kleine Weile uns gehört.
ich glaube – nicht mehr an die alten Lügen,
er wär auch nur ein Menschenleben wert…
Ich glaube – dass den Hungernden zu Speisen,
Ihm besser dient als noch so kluger Rat…
Ich glaube – Mensch sein und es auch beweisen
das ist viel nützlicher als jede Heldentat…
(Refrain]
Ich glaube – diese Welt müßte groß genug
weit genug, reich genug für uns alle sein
Ich glaube – dieses Leben ist schön genug,
bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen…
Ich glaube – dass man die erst man fragen müßte,
mit deren Blut und Geld man Kriege führt..
Ich glaube – dass man nichts vom Krieg mehr wüßte,
wenn wer ihn will auch am meisten spürt…
Ich glaube – dass die Haut und Ihre Farbe,
den Wert nicht eines Menschen je bestimmt..
Ich glaube – niemand brauchte mehr zu darben,
wenn auch der geben wird, der heut nur nimmt!
[Refrain]
Ich glaube – diese Welt müßte groß genug
weit genug, reich genug für uns alle sein
Ich glaube – dieses Leben ist schön genug,
bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen…
Udo Jürgens
Souterrain
Mein Haus ist ein Keller. Der Schlüssel
steckt, das Licht ist kaputt. Nur das Ober-
fenster leuchtet schwach. Eine alte, vor
Jahren angelegte Ordnung liegt noch in Luft.
Eingemachte Obststücke erzählen von einem
längst verdauten Sommer. Große Likörkolben
unterhalten sich über Fausts Hexenküche. In
der abgeschafften Kohlenecke wohnt jetzt ein
Tier, das sich für das Unterbewusstsein aus-
gibt. Es sagt, es lebe von den dunklen Resten
einer abgelaufenen Zeit. Ich überprüfe mein
Liebesbriefarchiv. Es ist vollkommen aus-
gezehrt.
Nur die Absender kann man noch entziffern.
Friedemann Holder
In Vergangenheiten
Ich gehe
In Vergangenheiten
Auf und ab
Dreh mich im Kreis
Und trete auf der Stelle.
Ich will
Mich
Loswerden
Ich will
Aus mir heraus
In ein anderes Ich hinein
In eine andere Zukunft.
Ich kann
Mich nicht befreien
Nicht begreifen
Was mich hält
Was mich erdrückt
Was mich gefangen nimmt
Ich kann nichts
Anderes
Als zu stolpern
Und zu stürzen
Jeden Tag
Über die immergleichen Steine.
Das Atmen
Strengt mich an
Ich will nicht mehr
Versuchen
Lisa-Maria Rakowitz